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Jugendkriminalität: „Es ist nicht fünf vor, es ist bereits fünf nach zwölf“

Kinder- und Jugendärzte sehen die ansteigende Jugendkriminalität unter anderem als Folge von Versäumnissen in der vorschulischen Erziehungs- und Bildungspolitik...

"Elterliches Erziehungsversagen mit unzureichender Förderung von Kindern in der so wichtigen Kleinkindphase, dazu ein unzureichendes Angebot an optimal ausgestatteten vorschulischen Erziehungsangeboten mit entsprechend qualifiziertem Personal, Familienbildungsstätten oder qualifizierten Tagesmüttern, welche die familiären Erziehungsdefizite ausgleichen können, bewirken, dass vor allem Kinder aus bildungsfernen Familien und Familien mit Migrationshintergrund häufig eine schlechte Schulkarriere haben und zu einem großen Teil keinen Schulabschluss schaffen. Damit ist besonders bei Jungen eine schlechte soziale Prognose verbunden“, so Dr. Wolfram Hartmann, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Deutschlands (BVKJ).

Die aktuelle gesellschaftliche Debatte um die zunehmende Jugendkriminalität und -gewalt lässt die Ursachen nach Ansicht der Kinder- und Jugendärzte weitgehend außen vor. „Neben sicher noch anderen beeinflussenden Faktoren wie z.B. Störungen der frühkindlichen Eltern-Kind-Bindung, Gewalterfahrungen in der Familie oder sozioökonomischer Enge wissen wir heute um die Wichtigkeit positiver Entwicklungsanreize in den ersten Lebensjahren. Sie helfen mit, die heranreifende Persönlichkeit zu stabilisieren und mit den nötigen Lebenswerkzeugen auszurüsten. Wichtige Werkzeuge sind neben erlerntem Sozialverhalten vor allem ausreichende Sprach- und Lesekompetenz, die eine Schlüsselfunktion für die weitere Schullaufbahn einnehmen.“, so die Kinder- und Jugendärzte.

Sie bemängeln, dass trotz der seit vielen Jahren von Ihnen erhobenen Forderungen nach einer ausreichenden Zahl von Kindertageseinrichtungen, die den neuen gesellschaftlichen Erfordernissen angepasst sind, und einer Betreuung hilfebedürftiger Familien die Politik immer erst dann erwacht und über notwendige Maßnahmen zu diskutieren bereit ist, wenn die Folgen der Versäumnisse unübersehbar sind. „Erziehungswissenschaftler sagen uns, dass deutsche Kindertagesstätten im internationalen Vergleich im Durchschnitt nur untere Mittelklasse sind“, rügen die Kinder- und Jugendmediziner. „Was wir brauchen, sind bestens ausgestattete Erziehungsstätten mit entsprechend umfassend qualifizierten Erzieherinnen und Erziehern und wissenschaftlich evaluierten Förderprogrammen von Anfang an für alle Kinder, die den Kleinsten eine reelle Entwicklungschance unabhängig von ihrer sozialen Herkunft ermöglichen. Dies muss in Rahmenbedingungen eingebettet sein, die Arbeitslosigkeit und Kinderarmut wirksam bekämpfen und sozial hilfebedürftige Familien aufsuchend betreuen“.

Das Medizinsystem biete mit seinen Therapiemaßnahmen wie Sprach- oder Ergotherapie keine Lösung. „Die Kinder- und Jugendmedizin kann Krankheiten heilen oder körperlich begründete Entwicklungsdefizite bessern, aber keine gesellschaftlich bedingten Probleme bewältigen“, betont Hartmann. Diese müsse die Gesellschaft mit pädagogischen Mitteln angehen. Das aber koste Geld und sei als Wahlkampfthema völlig ungeeignet „Ich bin sicher“, resümiert Hartmann, „dass eine gute vorschulische Entwicklungsförderung in qualifizierten Einrichtungen unter Einbeziehung der Familien eine hervorragende Grundlage für die künftige gute soziale Entwicklung aller Kinder ist, ob aus bildungsferner Familie, arm oder mit Migrationshintergrund. Dies ist echte Integrationsarbeit und hilft, gesellschaftliche Chancenungleichheiten zu glätten. Aber: es ist fünf nach zwölf, wir erleben heute die Versäumnisse früherer Jahre einer verfehlten frühkindlichen Entwicklungsförderung. Wir müssen endlich ernst machen mit einer modernen Kindergarten- und Familienpolitik.“