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Schulprobleme: Verpasste Chancen in der frühen Erkennung von rechenschwachen Kindern?

Die meisten Kindergartenkinder freuen sich auf ihren ersten Schultag. Sie wollen Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Aber nicht allen Kindern gelingt das. Kinder mit einer Rechenschwäche zeigen in der ersten Klasse schon Auffälligkeiten beim Rechnen, beim Umgang mit Mengen und Zahlen. In der zweiten Klasse treten gravierende Probleme durch die Erweiterung des Zahlenraumes bis 100, die - nicht therapiert- im dritten Schuljahr oft mit Mutlosigkeit und Frustration einhergehen und den Mathematikunterricht für Kinder zur Hölle werden lassen.

„Das führt zum Teil soweit, dass Kinder den Schulbesuch ganz verweigern und nur mit medizinischer und psychologischer Hilfe wieder 'schulfähig' gemacht werden, ohne dass das eigentliche Problem, die Rechenschwäche, überhaupt erkannt worden ist“, so Inge Palme, Referentin für Beratung und Fortbildung des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie e.V. “Die Kinder werden als Schulversager abgestempelt und entwickeln Symptome wie Ängste und Schulunlust bis hin zur Schulphobie.“ Hier liegen auch die Unterschiede zu den üblichen Problemen, die viele Kinder in der Schule haben. Dyskalkuliker sitzen beispielsweise oft stundenlang an ihren Mathe-Hausaufgaben. Nicht nur die Schule, sondern auch Kinder- und Jugendärzte sind häufig mit den psychischen und psychosomatischen Folgesymptomen einer Rechenschwäche befasst. Hierzu  Carlos Cordero d`Aubuisson, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin aus dem niedersächsischen Melle: „Die Probleme gehen nicht spurlos an den Kindern vorüber. „Einige Kinder ziehen sich zurück, zeigen depressive Züge, entwickeln Schulangst, andere werden aggressiv und zeigen Auffälligkeiten im Sozialverhalten. Ebenso kann es zu einer kompletten Lernverweigerung kommen. Diese Kinder brauchen gezielte und qualitative lerntherapeutische Hilfe, und zwar so früh wie eben möglich, um diese „Hölle“ erst gar nicht entstehen zu lassen.“

Förderdiagnostik

Eine Rechenschwäche gibt sich nicht von selbst. Sie ist schon gar nicht durch zusätzliches Üben zu beheben. Entscheidend ist eine frühe Erkennung der vielfältigen Auffälligkeiten beim Rechnen im 1. oder 2. Schuljahr, um rechtzeitig gezielte Fördermaßnahmen für das Kind einzuleiten. Das setzt allerdings ein spezielles Wissen über die Diagnostik und die daraus resultierenden therapeutischen Möglichkeiten voraus. Schon im Kindergarten und in den ersten zwei Schuljahren sollten Pädagogen auf Anzeichen der Rechenschwäche achten. In diesem Alter werden bereits die Fundamente für ein mathematisches Verständnis gelegt. Hierzu Inge Palme: „Es wäre erstrebenswert, wenn im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen – evtl. im Rahmen der Anamnese – Eltern gezielt gefragt würden, inwieweit altersentsprechend die notwendigen Vorkenntnisse für ein mathematisches Verständnis entwickelt sind. Zentral geht es um die Begriffserklärung der Mengenbildung“.

Wenn in den folgenden Beispielen von Vorschulkindern gesprochen wird, dann ist dabei an die 5- Jährigen gedacht, die auch zur U9  (5 – 5 1/4 Jahre)  vorgestellt werden. Ähnliche Fragestellungen schon zur U8 entwickeln zu wollen, ist vom Entwicklungsstand es Kindes her gesehen und des langen Zeitraumes bis zur Einschulung, unangemessen.

Einige mathematische Grundvoraussetzungen für Vorschulkinder aufgelistet:

  • Zähl- und Ziffernschreibfähigkeit im Zahlenraum bis 10: Das Kind sollte die Zahlen bis 10 kennen und bis 10 zählen können. Es muss absehbar sein, dass das Kind die Ziffern auch schreiben kann.
  • Zahlverständnis: Das Kind sollte die Zahl als Stellvertreter für Mengen verstehen. Eine Simultanerfassung der Mengen bis 4 sollte möglich sein bzw. bis zur Einschulung hergestellt werden.
  • Mengenkonstanz und Invarianz: Das Kind sollte verstehen, dass eine räumliche Veränderung von Elementen keinen Einfluss auf die Anzahl der Elemente hat und daher nicht nach einer Raum-Lage-Veränderung erneut gezählt werden muss.

Fehlen diese Fähigkeiten sind die Schwierigkeiten der Kinder, dem Stoff der Klasse 1 zu folgen, vorprogrammiert. Durch verschiedene schulpolitische Maßnahmen, nicht zuletzt durch das Abitur in 12 Jahren, hat auch in der Grundschule die Stofffülle zugenommen und damit die Zeit für zusätzliche Erklärungen abgenommen.  Liegen diese Fähigkeiten beim Kind vor, sind die Prognosen für die Klasse 1 gut, was aber nicht mit einer Garantie dafür verwechselt werden darf, dass das Operieren mit den Zahlen als Stellvertreter von Mengen auch im Übergang von Klasse 1 zu Klasse 2 auf der abstrakten Ebene gelingt. Da vor der Einschulung nur Risikofaktoren einer möglichen Rechenschwäche feststellbar sind, ist die Förderung von rechenschwachen Kindern erst in der ersten und zweiten Klasse anzusiedeln.

Ein erster Hinweis kann auch bei der Einschulungsuntersuchung, die vom öffentlichen Gesundheitsdienst durchgeführt wird, gegeben werden.

Auch die Kinder- und Jugendärzte spielen eine sehr wichtige Rolle bei der Beurteilung von Teilleistungsstörungen, da sie die Kinder im Vorschulalter kontinuierlich im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen beobachten und die Entwicklung gut beurteilen können. Durch ihre fachliche Qualifikation und Intervention können sie helfen, Defizite oder Entwicklungsrückstände rechtzeitig zu erkennen und Fördermaßnahmen einzuleiten.

„Mit vier Jahren ist die Vorsorgeuntersuchung  U8, mit fünf Jahren die U9 vorgesehen, bei denen Meilensteine der Entwicklung im Rahmen der körperlichen Untersuchung erfasst werden. Für Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen sind bis zur J1 mit 12 bis 14 Jahren keine weiteren Vorsorgeuntersuchungen vorgesehen“, sagt Dr. Wolfram Hartmann, Präsident des BVKJ. „Wir Kinder- und Jugendärzte halten drei weitere Vorsorgeuntersuchungen für sinnvoll. Eine davon ist die U10 im 7. – 8. Lebensjahr, bei der vor allem Probleme, die in den ersten beiden Schuljahren deutlich werden, wie beispielsweise Lese-Rechtschreib-Schwäche oder die Rechenschwäche/Dyskalkulie, aber auch <link typo3 bvkj krankheit _blank>AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), untersucht werden. Die Kinder- und Jugendärzte haben das gesamte Programm der wichtigen Untersuchungen inhaltlich überarbeitet, damit Entwicklungsrückstände und Teilleistungsstörungen rechtzeitig erkannt und einer gezielten Therapie bzw. Förderung zugeführt werden können“, so der Präsident.

Die Probleme bei Kindern und Jugendlichen  haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. „Sie können die Schullaufbahn sowie das gesamte spätere berufliche und soziale Leben negativ beeinflussen“, so Hartmann. Dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) gehören über 10.000 Mediziner aus Klinik, Praxis und öffentlichem Gesundheitsdienst an.

Da sich eine Rechenschwäche nicht „auswächst“, sind Symptome, wie sie in der Grundschule auftreten, auch in den weiterführenden Klassen zu finden. Der Arbeitskreis des Zentrums für angewandte Lernforschung gemeinnützige GmbH hat 3 Symptomfragebögen für Eltern herausgegeben, die unentgeltlich unter www.arbeitskreis-lernforschung.de abgerufen werden können. Sie sind für die Altersklasse Schüler der Klasse 1, der Klassen 2 bis 4 und Klassen 5 bis 10 bestimmt. Darüber hinaus wird ein umfassender, kostenpflichtiger Katalog (Klasse 1 bis 5) angeboten, der sich an Ärzte, Lehrer und Beratungsstellen wendet und darauf zielt, eigene und Elternbeobachtungen zusammenzufassen.

Unter der oben genannten Seite findet man auch Adressen von spezialisierten Einrichtungen, die Eltern und Kinder weiterhelfen, damit „Mathematik nicht zu einer verpassten Chance“ wird.