Kinder- & Jugendärzte im Netz

Ihre Haus- und Fachärzte von der Geburt bis zum vollendeten 18. Lebensjahr

Herausgeber:

44. Herbst-Seminar-Kongress 2016: Presseerklärung von Dr. med. Thomas Fischbach, Präsident des BVKJ

Anlässlich der Pressekonferenz am 10. Oktober 2016 im Rahmen des 44. Herbst-Seminar-Kongresses des BVKJ (Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte) in Bad Orb spricht Dr. med. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ)zum Thema: "Prävention ist Zukunft, Zukunft ist Prävention".

Der 1. September hätte ein guter Tag für die Kinder in Deutschland werden können. Es wurde aber der Tag, an dem sich wieder einmal überdeutlich zeigte, wie gleichgültig der Politik und den Krankenkassen das Wohl und insbesondere die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen sind.

Am 1. September traten nach jahrelangen Verhandlungen die neuen Regeln zur Früherkennung bei Kindern in Kraft. Die Kernpunkte der neuen Kinderrichtlinie in Kürze:

Beratung zum Impfschutz wird Pflicht, Mukoviszidose-Screening für alle Neugeborenen, intensivere Untersuchungen zur Entwicklung der Sprache, der Fein- und Grobmotorik sowie der Sehleistung, "vorausschauende Beratung", bei der der Arzt beispielsweise über Unfallgefahren, gesunde Ernährung und Hygiene informiert. Ein deutlicher Fortschritt also bei den seit 1971 existierenden Vorsorgeuntersuchungen. Wir Kinder- und Jugendärzte haben jahrelang für die neuen Vorsorgeuntersuchungen gekämpft. Wir hätten gerne am 1. September die ersten Patienten nach der neuen Kinderrichtlinie untersucht. Aber bis heute sind die neuen Vorsorgen noch keine Kassenleistung, wir dürfen sie nicht erbringen, unsere Patienten müssen darauf verzichten. Stellen Sie sich vor: das neue Smartphone liegt in den Schaufenstern und bei den Internethändlern, jeder sieht es, jeder erkennt den Fortschritt, jeder will es haben, aber wenn Kunden es haben wollen, heißt es "Nein!" Wahrscheinlich gäbe es einen Aufschrei in den Medien und sozialen Foren. Die zögerliche Einführung der Kinderrichtlinien bleibt dagegen in der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Soviel zum Stellenwert unserer Kinder in der Gesellschaft.

Wahrscheinlich müssen wir nun bis zum Frühjahr 2017 Jahr warten, bis der EBM angepasst ist, das heißt, bis sich KBV und Krankenkassen über eine Vergütung unserer Leistungen geeinigt haben, so dass wir die Untersuchungen auch durchführen und abrechnen können.

Keine psychosoziale Anamnese auch bei den neuen Vorsorgen

So wichtig die verpflichtende Impfberatung und die anderen neuen Bausteine der Vorsorgeuntersuchungen sind - ein besonders wichtiges Element fehlt: Der BVKJ hatte sich dafür eingesetzt, mit Hilfe eines etablierten Fragebogens eine ausführliche psychosoziale Anamnese vornehmen zu können. Damit hätten wir auch die emotionale, kognitiv-perzeptive und psychosoziale Entwicklung beurteilen können. Insbesondere entwicklungsgefährdete und sozial benachteiligte Kinder hätten davon profitiert. Die Kinderrichtlinie wäre damit ein Meilenstein für die Früherkennung emotionaler und sozialer Entwicklungsauffälligkeiten geworden. Aber unser Wunsch ist abgeschmettert worden. Damit ist uns ein wichtiges Instrument vorenthalten worden, Kinder ganzheitlich unter Berücksichtigung ihrer Aufwachsbedingungen zu untersuchen, Fehlentwicklungen in den Familien frühzeitig zu identifizieren, rechtzeitig Hilfe in die Wege zu leiten und die Kinder somit gegen Vernachlässigung und Misshandlung wirksam zu schützen.

"Prävention ist Zukunft" lautet das Thema des diesjährigen Jahreskongresses in Bad Orb. Dass wir heute hier allenfalls von einem kleinen Schritt in Richtung verbesserte Prävention berichten können, ist bitter. Für uns Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte, vor allem aber für die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Und hier vor allem für diejenigen, die in so genannten Risikofamilien aufwachsen, in Familien, in denen materielle Armut und zugleich Anregungsarmut herrschen. Wir hätten uns gewünscht, dass wir in Bad Orb bessere Nachrichten hätten verkünden können. Wir hätten gerne verkündet, dass wir bei der Prävention vor einer kopernikanischen Wende stehen.

Circa 20 Prozent der Kinder unter 15 Jahre in Deutschland gelten als arm nach Angaben des 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Sicher: eine Minderheit. Doch diese Minderheit wächst mit einem Maximum an Problemen auf. Viele von ihnen leiden unter Sprachentwicklungsstörungen, unter intellektuellen Entwicklungsverzögerungen, an emotionalen und sozialen Störungen, an Adipositas und chronischen Erkrankungen verschiedener Art - mit der Folge, dass sie ihr individuelles Entwicklungspotential nicht ausschöpfen können. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft, dass wir alle also wichtige Kompetenzen verlieren und hohe soziale Folgekosten tragen müssen, für soziale Transferleistungen vor allem, aber auch für medizinische Hilfe.

Präventionskette kommt nicht in Gang

In unseren Praxen schlagen die Störungsbilder aus dem Bereich der Neuen Morbiditäten meist zu allererst auf. Unsere Hilfe ist bisher vor allem individual-therapeutisch. Wir beraten die Eltern, verordnen Therapien etc. Für eine wirkliche Prävention müssten wir aber den Sozialraum unserer Patienten in den Fokus rücken, seine konkrete Lebenswelt. Wir müssten enger zusammenarbeiten mit den anderen Playern des Gesundheitssystems, also Kliniken, Spezialambulanzen, mit dem ÖGD. Wir müssten mit dem Sozialsystem, vor allem mit dem Jugendamt enger kooperieren. Und wir müssten mehr Kontakte zu Kitas und Schulen haben, um interprofessionelle Lösungen zu finden, die den benachteiligten Kindern die ihnen zustehenden Entwicklungschancen einräumen würden. Doch diese Vernetzung im Dienste einer Präventionskette braucht an ihrem Ausgangspunkt, nämlich in unseren Praxen, die psychosoziale Anamnese. Wir würden dann als Zuweiser und Mitgestalter arbeiten können. Nun haben wir also erst einmal eine Kinderrichtlinie, die uns daran hindert, uns als Anwälte der uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen mit all unseren Kompetenzen und Ressourcen einzusetzen.
Wir werden uns aber weiter dafür einsetzen, dass wir unser Ziel noch erreichen.

Chronisch kranke Kinder: Pädiater als Weichensteller

Schon heute steht das BVKJ-Schwerpunktthema des nächsten Jahres fest: "Chronisch kranke Kinder".
Nach einer Hochrechnung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin leben in Deutschland zurzeit rund 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen, zum Beispiel mit chronischen Erkrankungen der Luftwege, insbesondere Asthma, mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, Sehbehinderungen, Hörbehinderungen, Knochen- und Gelenkerkrankungen, Epilepsien, chronischen Hauterkrankungen wie Neurodermitis, Stoffwechselstörungen, insbesondere Diabetes. Über 90 Prozent der chronisch kranken Kinder erreichen heute dank des medizinischen Fortschritts das Erwachsenenalter. Das klingt gut. Aber auch hier gilt: sozial schwache Familien brauchen besonders viel Unterstützung, um ihre chronisch kranken Kinder angemessen zu fördern, um ihnen den Weg durch die Schule und ins Berufsleben zu ebnen. Auch hier spielen wir Pädiater eine wichtige Rolle als Weichensteller.

FASD: Jeder Schluck schadet dem ungeborenen Kind

Wichtiger noch als die richtige Weichenstellung ins Leben für chronisch kranke Kinder sind hier auch wiederum die Prävention und der Schutz der Kindergesundheit. Wir Pädiater tun viel dafür, dass chronische Krankheiten erst gar nicht entstehen. Zum Beispiel indem wir Eltern zum Thema Unfallprävention beraten. Oder ihnen die Gefahren von Nikotin für die Gesundheit ihrer Kinder erklären. Der BVKJ ist einer der Hauptunterstützer der Initiative für ein Rauchverbot im Auto, wenn Kinder mitfahren.
Ein wichtiges Thema, das wir in den Fokus rücken wollen, ist die Fetale Alkoholspektrumsstörung (FASD).
Nach Absprache mit der Drogenbeauftragten beim Bund, Marlene Mortler, will das BMG 2017 das Thema FASD aufgreifen. Es wird dann eine Fachtagung mit unserer Beteiligung geben, um das Thema weithin bekannt zu machen und werdende Eltern aufzuklären. Denn Aufklärung tut dringend not. Denn immer noch gilt in der Bevölkerung: ein paar Schlucke Bier oder Wein können doch nicht schaden. Das ist falsch. Jeder Schluck schadet dem ungeborenen Kind. Die Zahlen belegen das: Pro Jahr werden in Deutschland rund 10 000 Kinder mit FAS oder Alkoholspektrumsstörungen geboren. Damit zählt das Krankheitsbild zu den häufigsten angeborenen Krankheiten.

Die Ausprägungen von FAS können sehr unterschiedlich sein: sie reichen von körperlichen Fehlbildungen, Wachstumsstörungen, Herzfehlern bis zu Schädigungen des zentralen Nervensystems. Alle diese Symptome wären im Unterschied zu erblich bedingten Behinderungen vermeidbar.

FAS ist nicht heilbar

Vielen Ärzten fehlt das Wissen, um das Fetale Alkoholsyndrom zu diagnostizieren. Auch spezialisierte Diagnose-Zentren sind rar. So wird FAS häufig gar nicht oder erst nach Jahren festgestellt - für Eltern und Kind bedeutet das unnötigen Zeitverlust. Viele Eltern sind überfordert von ihren FAS-Kindern. Gerade wenn den Eltern, Erziehern und Ärzten nicht bewusst ist, welche Krankheit hinter dem meist auffälligen Verhalten des Kindes steckt, ist der Frust in der Familie groß. Eltern und Kinder sind gleichermaßen betroffen von der chronischen Krankheit FAS. Denn die Schäden durch FAS "verwachsen" sich nicht, und sie verschwinden auch nicht durch Heilmitteltherapien. Behandlungen helfen aber, das Potential der auszuschöpfen. Allerdings nur, wenn rechtzeitig eine umfassende Frühförderung beginnt.

Dafür wird sich der BVKJ im nächsten Jahr durch Aufklärungsveranstaltungen und Fortbildungen besonders einsetzen.

Bedarfsplanung; fragwürdige Strategie der GKV

Bad Orb ist immer auch der Ort, an dem es nicht nur um die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen, sondern auch um unsere Zukunft als Berufsstand geht. Hier möchte ich auf die Klage des GKV-Spitzenverbandes an der schlechten medizinischen Versorgung auf dem Lande eingehen. Mehr Geld für Landärzte, dafür aber weniger für die Ärzte in Ballungsräumen – das hatte Gernot Kiefer vom GKV-Spitzenverband im September beim Demografiekongress in Berlin gefordert. Ein äußerst fragwürdiges Rezept. Das Null-Summen-Spiel würde den heute schon unterversorgten Gebieten nichts bringen, es würde nur die pädiatrische Versorgung in den Ballungsräumen gefährden. Herrn Kiefer ist es wahrscheinlich entgangen, dass es überhaupt keine Überversorgung in Ballungsräumen gibt. Zumindest keine Überversorgung mit Kinder- und Jugendarztpraxen. Richtig ist allein, dass es in Städten mehr Kinder- und Jugendärzte als in manchen ländlichen Gebieten gibt - noch. Gerade in Städten gibt es besonders viele Kinder und Jugendliche, die in sozial problematischen Verhältnissen groß werden und damit auch mit großen gesundheitlichen Risiken. Kinder in sozial schwachen Verhältnissen haben ein viel höheres Risiko, an Übergewicht zu erkranken, psychische Störungen zu entwickeln und mit dem Rauchen und anderen Drogen anzufangen. Das hat die große KIGGS-Studie erwiesen.

Unterversorgung statt Überversorgung

Durch unser enges Netz an Vorsorgen gelingt es uns, diese gefährdeten Kinder medizinisch gut zu versorgen, Krankheiten frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern. Darin eine Überversorgung zu erkennen, reicht schon an Zynismus heran. Viele dieser Praxen haben überdurchschnittliche Fallzahlen und sind für die Versorgung unverzichtbar. Etliche Praxen in angeblich überversorgten Ballungsräumen sind heute schon kaum noch in der Lage, neue Patienten aufzunehmen. Wir haben bereits heute selbst im Mittelstädten und auch großstadtnahen Bereichen eine Unterversorgung mit Kinder- und Jugendärzten.

Herr Kiefer hätte sich in der Vergangenheit für eine bessere Bedarfsplanung einsetzen können. Stattdessen haben er und seine GKV-Kollegen am Bedarf vorbei geplant. Das Ergebnis sehen wir heute: die Niederlassung wird zunehmend unattraktiv, in der Stadt, vor allem aber auf dem Lande. Unattraktive Honorierung bei gleichzeitig wachsender Arbeitsbelastung wollen sich viele junge Ärztinnen und Ärzte nicht mehr zumuten. Unser Berufsstand vergreist, das Durchschnittsalter liegt heute schon weit über 50. Spätestens in zehn Jahren werden Kinder und Jugendliche überall in Deutschland Schwierigkeiten haben, eine gute kinder- und jugendmedizinische Betreuung zu finden. Angesichts dieser Perspektive haben wir kein Verständnis für das Gerede von Sanktionen.

Um nur den heutigen Versorgungsgrad aufrechterhalten zu können, benötigen wir in Zukunft sogar nach unseren Berechnungen mehr als doppelt so viele Kolleginnen und Kollegen wie heute. Denn die Kolleginnen und Kollegen können in Zukunft pro Tag wesentlich weniger Patienten versorgen als noch vor 20 oder 25 Jahren. Die Gründe habe ich z. T. eben schon erwähnt: gestiegener Umfang unserer Früherkennung, neue Impfungen, mehr chronisch kranke Kinder, mehr Kinder aus anregungsarmen Familien, bedingt durch das Fehlen der Großfamilie, auseinanderbrechende Beziehungen, Informationswust im Internet immer mehr Unsicherheit und Beratungsbedarf zum Thema Ernährung, Schlafen etc. bei jungen Eltern. Hinzu kommen andere Work-Life-Balance-Vorstellungen der jüngeren Ärztegeneration. Nicht unter-schätzt werden darf aber auch die Zunahme von Patienten mit Migrationshintergrund, die eine umfassende, weit über den reinen medizinischen Versorgungsaufwand hinausgehende, sozialpädiatrische Betreuung benötigen.

Bad Orb, 10. Oktober 2016

_________________________________________________
Dies ist eine Pressemeldung des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e.V. Der Abdruck dieser Pressemeldung oder von Teilen des Artikels ist unter folgender Quellenangabe möglich:
<link http: www.kinderaerzte-im-netz.de _blank>www.kinderaerzte-im-netz.de. Bei Veröffentlichung in Online-Medien muss die Quellenangabe auf diese Startseite oder auf eine Unterseite des BVKJ-Elternportals verlinken. Fotos und Abbildungen dürfen grundsätzlich nicht übernommen werden.

_________________________________________________