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44. Herbst-Seminar-Kongress 2016: Presseerklänrung von Prof. Dr. med. Klaus-Michael Keller, Wissenschaftliche Leitung

Anlässlich der Pressekonferenz am 10. Oktober 2016 im Rahmen des 44. Herbst-Seminar-Kongresses des BVKJ (Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte) in Bad Orb spricht Prof. Dr. med. Klaus-Michael Keller zum Thema: "Prävention ist Zukunft, Zukunft ist Prävention".

Prävention – aus dem Lateinischen Zuvorkommen, Verhindern – kann man in verschiedenen Stufen sehen:
1. primäre Prävention. Am Beispiel der Allergie hieße das, Verhindern, dass sich ein Kind auf eine Substanz sensibilisiert;
2. Sekundärprävention heißt Vermeiden von Krankheitssymptomen trotz erfolgter Sensibilisierung und
3. tertiäre Prävention, Vermeiden von Krankheitskomplikationen. Dazu gibt es aus München von der Arbeitsgruppe von Frau Prof von Mutius einen sicher sehr interessanten Vortrag zum neuesten Stand der Allergieprävention.

Prävention kann auch ganz global gesehen werden, z. B. Aktionen mit dem Ziel, schädliche Klimagase weiter zu reduzieren und den Verbrauch letzter Ressourcen der Menschheit zu verhindern. Jüngst stand dazu in der FAZ vom 14.09.2016 ein nicht nur uns Pädiater verstörender Bericht des Club of Rome von Jörgen Randers aus Norwegen. Er ist ehemaliger Vizedirektor der Naturschutzorganisation WWF und Mitautor des Berichts „Grenzen des Wachstums“ 1972, welcher mit zur Gründung der weltweiten grünen Bewegung beigetragen hat. Weiterer Autor des Berichtes ist der Club-of-Rome-Generalsekretär Graeme Maxton. Als Wachstumsskeptiker fordern die beiden eine Reduktion der Kinder auf der Welt, indem Frauen, die bis zum 50. Geburtstag höchstens ein Kind großgezogen haben, eine Prämie von 80.000 € bekommen sollen. Unter anderem fordern sie auch, dass die Rente erst ab 70 Jahren ausgezahlt werden soll. Kritik ist nicht ausgeblieben, auch nicht von den Grünen: „Man könne nicht nach dem Motto handeln, schaffen wir den Menschen ab, dann gehe es der Umwelt gut.“
Wir wollen uns auf der Tagung jedoch mit unseren pädiatrischen Themen und Möglichkeiten befassen, wobei wir dabei immer wieder auf soziale und politische Implikationen und somit oft an unsere Grenzen stoßen.

Beispiel Adipositas: Wie können wir die Epidemie der Fettleibigkeit verhindern oder eindämmen, wenn wir von diesen Umfeldfaktoren umgeben sind: Autos, Rolltreppen, Aufzüge und Fernsehen und Computer behindern den Bewegungsdrang unserer Kinder und erst recht den der Eltern; auf der anderen Seite gibt es süße Getränke, Fastfood, ambulante Restaurants in Hülle und Fülle, „das bohrende Gefühl in der Magengrube, was Hunger heißt“ kennen die Wenigsten heute noch.
Laut KiGGS-Studie 2003 -2006 sind 15% der Kinder- und Jugendlichen übergewichtig (BMI >90%) und 6,3 -6,4% sogar adipös (BMI >97%). Es gibt klare Zusammenhänge mit den sozioökonomischen Bedingungen, je schlechter die Lebensbedingungen, desto schwerer sind die Kinder!
Nach 5 Jahren dürfen wir wieder sehr gespannt sein, was uns Prof. Müller aus Kiel zum Thema Adipositasprävention zu berichten hat. Vor Jahren hat er uns schon klar gemacht, dass wir in vielen Fällen einem abfahrenden Zug hinterherlaufen. Wir Pädiater müssten uns darüber im Klaren sein, dass wir vielfach auf verlorenem Posten stehen, wenn die Sicherheit der Arbeitsplätze in der Nahrungsmittelindustrie in Deutschland wichtiger ist als die Gesundheit unserer Kinder.

Warum keine Zuckersteuer in Deutschland?

Im September 2016 stand dazu in den Zeitungen: „Extrasteuer für Zuckerbomben?“ In Frankreich gilt seit 2012 eine Zusatzsteuer von 7 € pro Hektoliter, also 7 Cent pro Liter mit zugesetztem Zucker oder Süßstoff! In den USA verlangt Berkeley in Kalifornien eine Abgabe von 30 Cent pro Liter Süßgetränken wie Cola, Eistee, Energydrinks: in den ärmeren Stadtbezirken sank der Konsum um 21% im ersten Jahr, ähnliches wird aus Mexiko berichtet (Zuckersteuer seit 2014: Konsum der Süßgetränke sank um 6% im 1. Jahr). Großbritannien will 2018 eine Zuckersteuer einführen, um stark gesüßte Getränke unattraktiv zu machen. Foodwatch fordert in Deutschland 20- 30 Cent Abgabe pro Liter Süßgetränk. Die eine Milliarde Euro an Abgaben könnten in Präventionsprogramme gegen Diabetes einfließen. Bundesernährungsminister Christian Schmidt setzt dagegen auf Information, Transparenz und bessere Ernährungsbildung. Die WHO jedenfalls empfiehlt, 25 Gramm Zucker, d.h. 6 Teelöffel, in verarbeiteten Lebensmitteln nicht zu überschreiten, was meines Erachtens ganz schön viel ist.
Wie schon erwähnt, gibt es klare Zusammenhänge zwischen schlechten sozioökonomischen Bedingungen für Kinder und Fettleibigkeit.

Was können wir Pädiater gegen Kinderarmut unternehmen?

Fast 2 Mio. Minderjährige sind auf Sozialleistungen angewiesen trotz guter wirtschaftlicher Lage. Die Quote der unter 18-Jährigen in Hartz-IV-Haushalten ist in den westlichen Bundesländern von 12,4% im Jahr 2011 auf 13,2% im Jahr 2015 angestiegen. Im Osten sank der Anteil armer Kinder zwar um 2,4%, blieb aber mit 21,6% vergleichsweise hoch. Insgesamt wachsen damit 14,7% der Kinder, 52.000 mehr als noch 2011, in Armut auf, das ist fast jedes 7. Kind! (Mainzer AZ vom 13.09.2016). Bekannte Armutsrisiken sind vor allem kinderreiche Familien und Kinder mit alleinerziehendem Elternteil. Oft bleiben die Kinder jahrelang in dieser Armut, was langfristig zu Gesundheitsproblemen führt: Mangel an gesundem Essen, soziale Isolation wegen fehlendem Eintritt in einen Sportverein, schlechtere Bildungschancen weil kein ruhiger eigener Platz zum Lernen etc.

Wenn wir uns dann noch vorstellen, dass viele solcher Familien in mietpreisgünstigeren Wohnungen an verkehrsreichen Ausfallstraßen wohnen und damit jahrelang höchst schädlichem Feinstaub und Stickoxiden ausgesetzt sind, wird das langfristige Desaster am Herzkreislaufsystem dieser Menschen klar. Im Lancet wurde jüngst (doi: 10.1016/S0140-6736(16)003780) aus Seattle ein 10-Jahresverlauf von 7.000 anfangs herzgesunden Männern und Frauen mittleren Alters berichtet: es bestand ein ganz klarer Zusammenhang von fortschreitender Arteriosklerose (Kalkmessung der Koronarien im CT) und dem Ausmaß an Luftverschmutzung und dem Einatmen von Partikeln von höchstens 2,5 Mikrometern (PM2,5). Es gibt keinen sicheren Schwellenwert, der die Arterienverkalkung nicht begünstigt. Die USA haben jedoch immerhin einen PM2,5-Grenzwert von maxi-mal 12 Mikrogramm pro Kubikmeter, Europa dagegen begnügt sich mit einem von 25 Mikrogramm pro Kubikmeter. Kommentare zur USA-Studie fragen, wie viel Evidenz denn noch europäische Politiker benötigen, um das Problem endlich ernsthaft anzupacken. Der Abgasmanipulationsskandal bei VW, Audi etc. bekommt dann noch eine ganz andere Bedeutung für unsere Kinder!

Vorausschauende Beratung entscheidend

In Vorträgen zu den neuen Früherkennungsrichtlinien, dem Prinzip der vorausschauenden Beratung auch bezüglich Medienkonsum, zu den Möglichkeiten der Frühen Hilfen und deren Umsetzung in der pädiatrischen Praxis, in Referaten zur Kooperation mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst, den Kindertagesstätten und Schulen wollen wir die Kinder- und Jugendärzte informieren, dass sie hier bessere Möglichkeiten der Prävention und Identifikation von Risikofamilien an der Hand haben als früher, auch wenn die Vergütungen des Zeit- und Ressourcenaufwandes noch lange nicht befriedigend geklärt sind. Ein ganz spezieller Vortrag aus der Schweiz widmet sich dem Thema Früherkennung und Chance für Prävention bei Kindsmisshandlung. Vor ziemlich genau 40 Jahren, am 24.09.1976 wurde der Weisse Ring gegründet als Deutschlands größte Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität. Eduard Zimmermann (Aktenzeichen XY ungelöst) war Mitbegründer. Einer der heutigen Vorstände des Weissen Rings, Karl-Heinz Weber, früherer Polizeipräsident in Mainz, fordert mehr Anstrengungen in der Prävention von Verbrechen.
Aus dem speziellem Anlass der zu uns gekommenen und weiterhin kommenden Flüchtlingsfamilien aus Kriegsgebieten bieten wir ein eigenes Symposium zu Kindern und Jugendlichen mit Flüchtlingshintergrund an und dürfen von den Erfahrungen der pädiatrischen Kollegen aus München hören und für unseren pädiatrischen Alltag lernen. Impfungen als effektive Präventionsmaßnahme kommen während der Tagung mehrfach zur Sprache.

Zu viele Masernfälle und Unfalltote

Ausgemasert titelt die FAZ am Sonntag vom 02.10.2016: Die WHO hat ganz Amerika diese Woche für masernfrei erklärt. Es gab zwar einzelne eingeschleppte Masernfälle, aber der letzte endemische Masernausbruch liege fast 15 Jahre zurück. Europa ist davon weit entfernt. Deutschland erlebte im vergangenen Jahr mit 2.465 Fällen die heftigste Masernwelle der letzten 10 Jahre.

Ein weiteres Symposium ist der Unfallprävention gewidmet. In der FAZ vom 9.September 2016 stand ein aufrüttelnder Artikel: „So viele Badetote wie lange nicht“: Seit Jahresbeginn sind in Deutschland mindestens 425 Menschen ertrunken, d.h. 46 mehr als in den ersten 8 Monaten 2015, seit 8 Jahren die höchste Anzahl an Toten laut DLRG. Männliche Asylsuchende sind eine Risikogruppe, aber auch Kinder aus allen Alterstufen: 15 Vorschulkinder (6 mehr als im Vorjahr), 12 Grundschulkinder und 9 Jugendliche mehr als im Vorjahr starben. DLRG-Präsident Hatje kritisiert: „Diese Zahlen sind das Ergebnis von Bäderschließungen und damit verbundenen Ausfällen von Schwimmunterricht an den Schulen!“

Wir Pädiater müssen uns weiterhin als Anwälte für Kinder und Jugendliche verstehen und nicht als Produzenten von Gesundheit als Ware. Gerade für die Kinder und Jugendlichen aus Risikofamilien und für Familien mit Flüchtlingshintergrund, die unsere Präventionsmaßnahmen am dringendsten benötigen, brauchen wir Zeit, Empathie und Enthusiasmus, um die oft komplexen Zusammenhänge zu begreifen.

Im industriellen Produktionsprozess wird Zeit als Verschwendung betrachtet, in der pädiatrischen ärztlichen Tätigkeit ist Zeit ein hohes Gut für Qualität und Erfolg. Dafür müssen wir Pädiater innerhalb der Gesundheitswirtschaft einstehen und kämpfen.

Bad Orb, im Oktober 2016

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