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Kleinkinder: Störungen der Entwicklung / Berliner Modell-KiTa

Kinder im Vorschulalter weisen zunehmend motorische, vor allem aber sprachliche Entwicklungsrückstände (SEV) auf

Ausgangspunkt des Projektes "Berliner-Modell-KiTa" war die in der täglichen Praxis von der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte gemachte Beobachtung, dass Kinder im Vorschulalter zunehmend Entwicklungsstörungen im Bereich der motorischen, vor allem aber sprachlichen Entwicklung aufweisen. Neben Kindern aus Migrantenfamilien mit nicht-deutscher Sprachumgebung sind in wachsender Zahl Kinder aus deutschen Familien betroffen, wobei diesbezüglich insbesondere Kinder aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien vorherrschend sind. Gestützt wird diese Beobachtung durch die Ergebnisse der Berliner Schuleingangsuntersuchung des Jahres 2001.

Kinder mit SEV haben schlechte Bildungschancen und eine schlechte soziale Prognose

Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen haben deutlich mehr spätere Schulschwierigkeiten bzw. sind deutlich häufiger Schulabbrecher als Kinder ohne diese Defizite. Ca. 40 % der Kinder mit SEV brechen ihre Schulausbildung ohne Abschluss ab. Der übrige Teil erhält überwiegend niederrangige Schulabschlüsse. Kinder ohne bzw. mit niederrangigem Schulabschluss haben später nur schlechte sozialen Chancen. Zum Beispiel hatten nur ca. 13% der Schulabgänger mit Hauptschulabschluss im Jahre 2001 eine Lehrstelle gefunden. 

Doppelt so viele Kinder als erwartet erhalten medizinische Fördermaßnahmen.  Aber: Medizinisch begründete Entwicklungstherapien sind keine adäquate Behandlung und Lösung soziogener Entwicklungsdefizite und haben nur wenig nachhaltigen Erfolg

Die bisherige, eher hilflos-"therapeutische" Konsequenz ist, dass solche Kinder medizinisch begründete Entwicklungstherapien erhalten, die punktuell für einen bestimmten Zeitraum und für eine definierte Indikation eingerichtet sind (z. B. Ergotherapie, Logopädie). In Berlin hat fast jedes dritte Kind (ca. 30 %) in der Altersgruppe von 0 bis 6 Jahren eine solche Therapie erhalten. Aus statistischen Erhebungen sozial-pädiatrischer Zentren ist bekannt, dass eigentlich nur durchschnittlich 10 bis 15 % der Kinder dieser Altersgruppe so schwer von Behinderung bedroht bzw. betroffen sind, dass sie eine Entwicklungstherapie benötigen. Wenn in Berlin etwa doppelt so viele Kinder eine derartige Therapie erhalten, liegt hier eine zusätzliche Verursachungskomponente zugrunde, die vermutlich zum großen Teil in der mangelnden häuslichen Anregung der 0- bis 6-jährigen Kinder liegt. Es liegt eine - wie es der Bonner Neuropädiater Schlack formuliert - zunehmende "edukatorische Insuffizienz" der Eltern vor. Medizinische Entwicklungstherapien sind bei diesen Kindern sicher nicht das Mittel, den Verlust an Entwicklungsanregung auszugleichen, den sie in ihrem vorschulischen Leben erleiden mussten. Untersuchungen haben ergeben, dass deutsch-muttersprachliche spracherwerbsgestörte Kinder unter der herkömmlichen logopädischen Therapie keine bzw. nur geringfügigste Sprachfortschritte machen.

Konsequenz: Kinder mit soziogenen Entwicklungsdefiziten benötigen keine "Medizin", sondern eine ausreichende Förderung im vorschulischen Altersbereich.
Also: "Weg von der Medizin, Zurückfinden in die Pädagogik"

Wenn aber in der gegenwärtigen Zeit eine mangelnde familiäre Entwicklungsanregung ausbleibt, sollte versucht werden, die Kinder in der Zeit ihrer Anwesenheit in den Kindertagestätten, die die meisten von ihnen besuchen, zu fördern. Das enthebt nicht von der Notwendigkeit, eine nachhaltige Familienpolitik mit dem Ziel der Wiedergewinnung elterlicher Erziehungskompetenzen zu entwickeln. Aber die Kinder haben jetzt das Problem und ihnen muss jetzt geholfen werden. In den KiTas sind nicht medizinische, sondern pädagogische Anregungsprogramme vonnöten. Diese Programme müssen derart gestaltet werden, dass sie in den täglichen Programmablauf integriert werden können, so dass die Kinder täglich immer wieder kleinere sowohl sprachliche als auch motorische Anregungen erhalten. Untersuchungen von Prof. Penner aus Konstanz haben den Erfolg solcher Programme bei ca. 2.000 Migrantenkindern bestätigt.

Kindertagesstätten sind neben der Familie die wichtigsten Einrichtungen der vorschulischen Entwicklungsanregung. Das Projekt "Berliner Modell-KiTa"

Die gegenwärtige Struktur der meisten KiTas ist weder inhaltlich noch organisatorisch dazu geeignet, die wichtige Aufgabe der vorschulischen Entwicklungsanregung zu übernehmen. Deshalb muss hier eine Neuausrichtung und Anpassung stattfinden.
Voraussetzung ist allerdings die politische Wahrnehmung der KiTas als neben der Familie wichtigstes Anregungs- und Bildungsinstitut.
Insgesamt wurden sieben Kindertagesstätten bestimmt, in denen modellhaft ein Motorik- sowie ein Sprachanregungsprogramm installiert wurde.
Das Motorik-Programm wird unter der Leitung des Landessportbundes Berlin und der AOK durchgeführt. Es entspricht dem Konzept des Motorik-Förderprogrammes "Kleine kommen ganz groß raus".
Das Sprachprogramm wurde von dem Psycholinguisten PD Dr. Penner (Konstanz) in Zusammenarbeit mit den Proff. Weissenborn (HU) und Gross (FU) entwickelt und bereits an ca. 2.000 Züricher Migrantenkindern evaluiert. Wichtig ist, dass dieses Programm sowohl deutsch-muttersprachliche spracherwerbsgestörte Kinder als auch Kinder mit nicht-deutschem Sprachhintergrund in gleicher Weise fördert. Diese Kombination bildet die "Förderwirklichkeit" Berliner Kindertagesstätten ab, in denen - zumindest in den Ballungszentren - Migrantenanteile von mehr als 90% die Regel sind.

Um solche Programme politischen Entscheidungsträgern interessant zu machen, bedarf es neben einem vertretbaren Kostenaufwand insbesondere des Wirksamkeitsnachweises. Deswegen wird großer Wert auf eine solide, methodisch einwandfreie Evaluierung gelegt. Wenn die Qualität des Sprachförderprogrammes nach Penner nachgewiesen wurde, werden Kindertagesstätten eine wichtige frühkindliche Anregungshilfe werden und eine entsprechende edukatorische Bedeutung erlangen. Vor allem aber: einem großen Teil der potentiellen Bildungsverlierer von morgen könnte der Weg ins soziale Abseits erspart bleiben.